Einweihung von Gedenkbändern am Gleis 2 des Bahnhofs Treysa
Am Mittwoch, den 9. November 2022, fand im Bahnhof Treysa ein besonderes Gedenken statt: Metallbänder oberhalb der Handläufe zu den Gleisen 2 und 3 mit den Namen aller 53 von Gleis 2 aus deportierten Schwälmer Jüdinnen und Juden wurden eingeweiht. Über einen QR- Code sind weitere Informationen zu den Deportationen 1942 und die Biografien dieser 53 Menschen abrufbar und auf der Homepage der Stadt Schwalmstadt zu finden. Die Veranstaltung wurde vom „Arbeitskreis Gedenken“ mit Unterstützung der Stadt Schwalmstadt, Bürgermeister Stefan Pinhard und von Schülerinnen und Schülern des Schwalmgymnasium Treysa organisiert und durchgeführt. Zahlreiche Vertreter der lokalen und regionalen Politik hielten Grußworte, darunter die Landtagsabgeordneten Wiebke Knell (FDP) und Heidemarie Scheuch-Paschkewitz (Die Linke) sowie der 1. Kreisbeigeordnete des Schwalm-Eder-Kreises, Jürgen Kaufmann (SPD). Für den „Arbeitskreis Gedenken“ sprach Jürgen Junker über den historischen Hintergrund und stellte einzelne Biografien von deportierten Jüdinnen und Juden vor. Besondere Gäste kamen aus England: Drei Töchter des Treysaer Hans Joachim Spier, der 1939 als 11-jähriger jüdischer Junge über ein Waisenhaus in Frankfurt mit einem Kindertransport nach England gerettet werden konnte, waren anwesend. Sally Cunningham und ihre Schwestern Margaret Brewer und Paula Bradbury bereicherten die Gedenkveranstaltung mit einem eigenen Beitrag. Dies war eine Herzensangelegenheit für sie, ebenso wie ein anschließendes Gespräch mit Jugendlichen im Schwalmgymnasium.
Am Aufgang zu Gleis 2 verlasen Schülerinnen und Schüler des Schwalmgymnasium Treysa die Namen der 53 deportierten jüdischen Männer, Frauen und Kinder und begleiteten die Gedenkveranstaltung musikalisch. Pfarrer Dieter Schindelmann hielt eine Andacht, die Gedenkveranstaltung endete mit der Totenklage „Al male rachamim“ („G’tt voller Erbarmen“) gesungen vom Kasseler Kantor Jakow Axenrod.

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Ansprache Jürgen Junker, Grußwort Sally Cunningham, Schülerinnen und Schüler des Schwalmgymnasium Treysa verlesen die Namen der Deportieren
Einweihung der Gedenkbänder am Bahnhof Treysa, 9.11.2022, (Fotos: Bernd Lindenthal)

 

pdfInitiation in English
pdfArtikel HNA vom 10.11.2022

Anmerkungen zur Entwicklung des Gedenkprojekts
Der „Arbeitskreis Gedenken“ ist eine Arbeitsgruppe Schwalmstädter Bürgerinnen und Bürger. Zu ihnen gehören Dieter Schindelmann, Evangelische Kirche Franz-von-Roques, Dr. Hans-Joachim Zeiß, Stadtgeschichtlicher Arbeitskreis Treysa, Bernd Lindenthal, Lehrer i.R., Treysa, Hans Gerstmann, Lehrer i.R., Ziegenhain, Jürgen Junker, Lehrer i.R., 2019/20 Kurator der Ausstellung „Lebenslinien - gerettete Kinder aus der Schwalm“ sowie Karin Brandes, Gedenkstätte und Museum Trutzhain. Sie alle waren auf Einladung von Karin Brandes zusammengekommen, um Vorschläge für ein Gedenken am Bahnhof Treysa an die jüdische Bevölkerung und an die Deportationen der letzten Schwälmer Jüdinnen und Juden 1942 auszuarbeiten, und der Deutschen Bahn sowie dem Magistrat der Stadt Schwalmstadt und Bürgermeister Stefan Pinhard vorzulegen.
Die Deportationen fanden am 31. Mai und 6. September 1942, beides Sonntage, vom Gleis 2 des Bahnhof Treysa aus statt und führten über Kassel in die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Mit den beiden Deportationen endete eine mehr als 400jährige wechselvolle Geschichte jüdischen Lebens in der Schwalm. Ein öffentliches Erinnern an die Deportationen und das Schicksal der Menschen fehlte bisher.
Der Wunsch nach einem angemessenen Gedenken am Bahnhof Treysa an die Deportationen 1942 wurde bereits lange vor der Initiative des „Arbeitskreises Gedenken“ ausgesprochen. So hatte sich unter anderen der in Treysa geborene Hans Joachim Spier bereits am 18. September 1989 von England aus an den damaligen Bürgermeister Gerd-Friedrich Huck gewandt. „Jack“ Spier hatte den Holocaust in England überlebt, seine Eltern Willi und Rosel Spier und seine Großmutter, Jeanette Spier, wurden am 6. September 1942 vom Bahnhof Treysa aus deportiert und in Lagern ermordet. Jetzt, 80 Jahre später, nahmen drei Töchter von Jack Spier aus England an der Gedenkveranstaltung teil.
Über die Ausgestaltung des Gedenkens bestand schnell Einigkeit innerhalb des Arbeitskreises. So sollte auf „Gedenkbändern“ an das Schicksal der vom Gleis 2 aus deportierten jüdischen Männer, Frauen und Kinder erinnert werden. Sie nennen die Namen, das Alter und die Wohnorte der Deportierten. Die Idee der Bänder lehnt sich in dieser Form denen im Hauptbahnhof Marburg an: Hier wurden von der Stadt Marburg Gedenkbänder zu den Gleisen 5 und 8 angebracht. Wir danken der Stadt Marburg, die sich mit dem Aufgreifen der Idee in Schwalmstadt einverstanden erklärte.
Anfragen um Unterstützung des Vorhabens bei der Deutschen Bahn sowie beim Magistrat der Stadt Schwalmstadt und Bürgermeister Stefan Pinhard wurden begrüßt und positiv entschieden, u.a. mit einem einstimmigen Magistratsbeschluss im Februar 2020. Spenden sicherten schließlich die Finanzierung der Gedenkbänder.
Durch die Umbauarbeiten der Deutschen Bahn am Bahnhof Treysa zwischen 2019 und 2022 wurde eine schnelle Realisierung des Projekts erst möglich. Damit konnte die Einweihung der Gedenkbänder am Aufgang zu Gleis 2 und 3 am 9. November 2022 stattfinden, an deren Umsetzung Schülerinnen und Schüler des Schwalmgymnasium Treysa mit ihren Lehrerinnen Astrid Meschede und Dr. Stefanie Sievers maßgeblich beteiligt waren.

Jürgen Junker für den „Arbeitskreis Gedenken“

 

pdfIntroduction_to_texts_on_deportation

 

„In Erinnerung an die Männer, Frauen und Kinder dieser Stadt und den benachbarten Ortschaften, die in Viehwaggons steigen mussten, um in Konzentrationslagern (um)gebracht zu werden und nie wieder nach Hause zu kommen.“

Margaret Brewer, Enkeltochter von Rosel und Willi Spier aus Treysa

 

Den folgenden Seiten können Sie Angaben und Kurzbiografien zu den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern entnehmen, die 1942 vom Gleis 2 des Bahnhofs Treysa aus deportiert wurden, gegliedert nach Wohnorten und in alphabetischer Reihenfolge.

Die erste Deportation fand am 31. Mai 1942 statt. An diesem Tag wurden insgesamt 39 jüdische Männer, Frauen und Kinder vom Bahnhof Treysa aus zunächst nach Kassel verbracht, und von dort am folgenden Tag in die Konzentrationslager Lublin-Majdanek-Sobibor deportiert. Sie stammten aus unterschiedlichen Orten des Altkreises Ziegenhain. Einige von ihnen kamen aus den Ortschaften Oberaula (13 Personen) und Neukirchen (acht Personen), gelegen an der Knüllwaldbahn-Linie. Zu diesem Zeitpunkt existierte diese Bahnlinie noch (bis 1984/1995), die Hersfeld mit Treysa verband. Die Jüdinnen und Juden wurden unter Aufsicht des Ortsgendarmen an den Bahnhof ihres Ortes, in Oberaula und in Neukirchen gebracht, um nach Treysa zu fahren. Ob es einen nennenswerten Zwischenstopp in Ziegenhain-Süd gab, wie es eine Gestapo-Anordnung an Landräte und Polizeidienststellen sogar mit der Uhrzeit (6 Uhr) vorsah, ist nicht geklärt. In Ziegenhain gab es zu diesem Zeitpunkt keine jüdische Bevölkerung mehr. Sicher ist, dass alle Deportierten am Sonntag, den 31. Mai 1942 zum Bahnhof nach Treysa als Endhaltestelle kamen. Ob sie hier nach Kassel umsteigen mussten oder ob der Waggon der Knüllwaldbahn dem Zug aus Marburg angehängt wurde, bleibt ungeklärt. Die Überführung nach Treysa galt auch für die drei jüdischen Einwohner aus Willingshausen bzw. Merzhausen, die direkt dorthin gebracht wurden. In Treysa stiegen weitere 15 Personen zu, die Treysaer Juden. Die Deportierten waren zwischen 7 (Rahel Isaak) und 63 Jahre (ihr Großvater Max Isaak) alt. Niemand von ihnen hat überlebt.

 

Die zweite Deportation erfolgte am 6. September 1942 und führte über Kassel in das Konzentrationslager Theresienstadt. Zu diesem Zeitpunkt lebten bereits alle verbliebenen Schwälmer Jüdinnen und Juden in Treysa, die meisten im „Schön‘schen Haus“, einem sogenannten „Judenhaus“ in der Steingasse. Viele hatten das 80. Lebensjahr fast erreicht oder bereits überschritten. Zwischen Mai und September 1942 waren die wenigen in den anderen Orten verbliebenen bereits zwangsweise nach Treysa verwiesen worden, was im Einzelfall auch schon für die Deportation im Mai zutrifft. Das dürfte „logistische Gründe“ des Deportationsablaufs gehabt haben.

Von den im September deportierten Jüdinnen und Juden überlebten Josef Abraham aus Treysa und Salomon Spier aus Merzhausen das Lager Theresienstadt, alle anderen wurden ermordet. Josef Abraham lebte nach 1945 in der Schweiz, Salomon Spier verstarb 1947 in seinem Heimatort Merzhausen an den Haftfolgen. Er wurde dort auf dem jüdischen Friedhof bestattet.

 

 pdfOn the prehistory of the two deportations

 

Zur Vorgeschichte der zwei Deportationen (Quellen: www.statistik-des-holocaust.de vgl. 01.06.42 nach Majdanek/Sobibor (statistik-des-holocaust.de); lagis-hessen.de, vgl. Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe : Entdecken : LAGIS Hessen (lagis-hessen.de) und vgl.  11_Richter_Die Gestapostelle Kassel HB (vhghessen.de)

 

Deportation am 31.05.1942 vom Bahnhof Treysa, Gleis 2

Bereits am 20. März 1942 hatte die Gestapo Kassel die Landräte und Polizeidienststellen in Nordhessen informiert, dass "im Zuge einer bereits laufenden Evakuierungsaktion [...] in nächster Zeit auch aus dem Regierungsbezirk Kassel ca. 840 Juden nach dem Osten abgeschoben" werden [HStA Marburg, 180 Fritzlar 2737]. Durch die Zusammenlegung mit einem Teiltransport aus Halle sollte die vorgegebene Zahl von 1000 Deportierten erreicht werden. Ein weiteres Schreiben vom 22. Mai 1942 legte schließlich fest, dass "nach den gegebenen Richtlinien [...] für die bevorstehende Aktion nicht 844, sondern nur 522 Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel in Frage kommen. […]  Diese Juden werden am 1.6.1942 von Kassel nach dem Osten abgeschoben." [HStA Marburg, 180 Fritzlar 2737]. Im selben Schreiben wird die Heranführung der Betroffenen mit der Bahn aus den verschiedenen Regionen am 30. Mai und 31. Mai 1942 detailliert geplant.

Vom Bahnhof Kassel brachte der Deportationszug am 1. Juni 1942 508 jüdische Menschen aus dem Bezirk Kassel in das Konzentrationslager Majdanek (Lublin) sowie in das Durchgangslager Izbica bzw. das Vernichtungslager Sobibor (im heutigen Dreiländereck Polen–Weißrussland–Ukraine). Der Zug mit der Kennung „Da 57“ (laut Fahrplan der Reichsbahn) beförderte 99 jüdische Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Kassel und 409 Menschen aus den kreisfreien Städten Fulda (36), Hanau (29) und Marburg (25) sowie aus den Landkreisen Hanau (57), Rotenburg (45), Ziegenhain (39), Marburg (34), Waldeck (29), Eschwege (17), Hersfeld (14), Melsungen (elf), Frankenberg (zehn), Wolfhagen (zehn), Fritzlar-Homberg (neun), Schmalkalden in Thüringen (neun), Fulda (sechs), Hofgeismar (vier), Hünfeld (zwei) und Witzenhausen (ein). In Lublin kam es auf einem Nebengleis zur „Selektion“ des Transports. Etwa 100 Männer im Alter zwischen 15 und 50 Jahren wurden von der SS aus dem Zug genommen und in das Lager Majdanek eingewiesen. Für die Verbliebenen – Frauen, Kinder und Alte – endete die Fahrt vermutlich direkt im Vernichtungslager Sobibor.

Nach Augenzeugenberichten mussten die am 31. Mai nach Kassel verbrachten Jüdinnen und Juden in der Turnhalle der Bürgerschule in der Schillerstraße, wo sie auch registriert worden waren, unter Bewachung die Nacht vor der Deportation am 1. Juni 1942 zubringen.

 

Deportation am 06.09.1942 vom Bahnhof Treysa, Gleis 2

Ein Schreiben vom 25. August 1942, abgefasst im Referat II B 4 („Judenangelegenheiten“), das von Kriminalkommissar und SS-Obersturmführer Mamsch geleitet wurde, enthielt die Anweisungen über den Beginn einer weiteren Deportation. Auch diese sollte von den jeweiligen Heimatorten zunächst zum Sammellager nach Kassel führen. „Am 7. 9. 1942 werden die restlichen Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel nach Theresienstadt abgeschoben. Die Vorbereitung und Durchführung dieser Abschiebung im Benehmen mit den beteiligten Stellen liegen ausschließlich wieder in den Händen der Staatspolizeistelle Kassel. Eine namentliche Liste der nach den gegebenen Richtlinien in Frage kommenden Juden, getrennt für jeden Kreis, ist als Anlage beigefügt. Sämtliche Juden werden vor ihrem Abtransport nach Theresienstadt in einem Auffanglager in Kassel konzentriert. Vorgesehen für diesen Zweck sind die Bürgerschulen Schillerstraße/Ecke Wörthstrasse in Kassel. Den Zeitpunkt der Abfahrt der Juden von ihren Abgangsbahnhöfen und ihrer Ankunft in Kassel werde ich noch bekannt geben“. Das Schreiben enthält darüber hinaus bürokratische Anweisungen. Sie machen deutlich, wie sich die NS-Behörden um eine verdeckte Aktion bemühten, die bis in die Wortwahl „maskiert“, um nicht zu sagen „verlogen“ war. So heißt es u. a., dass bei Abmeldung der Juden in den Meldeämtern nicht der Zielort oder ein Vermerk „Evakuiert nach Theresienstadt“, sondern lediglich „Unbekannt verzogen“ bzw. „Ausgewandert“ anzuführen sei. Das Vermögen in der Wohnung der „evakuierten Juden“ solle beschlagnahmt werden. Ferner wurden Angaben über Umfang und Anzahl des Gepäcks der Deportierten gemacht. So war ihnen erlaubt, einen Koffer oder einen Rucksack mit Ausrüstungsgegenständen mitzubringen, dazugehörig vollständige Bekleidung (Schuhwerk), Bettzeug mit Decke, Essgeschirr (Teller oder Topf) mit Löffel und ein Mundvorrat für drei Tage. Es galt die Anweisung, dass sämtliches Bargeld mitzunehmen sei und 50,- RM zur Verfügung gestellt würden.  Die mitgeführten Wertsachen, wie Gold, Silber, Platin etc. würden alle bis zum Eintreffen im Auffanglager behalten können. Dort würden ohnehin körperliche sowie die Gepäckdurchsuchungen vorgenommen und den Deportierten auch erst dort die Lebensmittelkarten abgenommen werden. M.a.W.: Es wurde im Schreiben klargemacht, dass es sich zum Schein um eine Evakuierung, in der Wirklichkeit aber um eine Todesfahrt handeln würde.

 

Tabellen

pdfDeportation 31.05.1942

pdfDeportation 6.09.1942

pdfJews from the Schwalm region deported in 1942 (listed according to place of residence and in alphabetical order)

 

Die im Jahr 1942 deportierten Schwälmer Jüdinnen und Juden (nach Orten und in alphabetischer Reihenfolge)

Quellen: Bernd Lindenthal, Zwischen Hoffnung und Wahnsinn, Über Juden in Treysa- Von den Anfängen bis 1942, in: Heimatvertriebene Nachbarn, Beiträge zur Geschichte der Juden im Kreis Ziegenhain, hg. v. H. Bambey, A. Biskamp, B. Lindenthal, Bd.I, Schwalmstadt-Treysa 1993; im Folgenden zitiert als: B. Lindenthal, Zwischen Hoffnung und Wahnsinn, mit Seitenangabe. B. Lindenthal hat freundlicherweise die Übernahme von Fotoaufnahmen ermöglicht.

Treysa:

Die Brüder Josef und Emanuel Abraham: Emanuel ABRAHAM (geb. 15.08.1879 in Treysa) und Josef (Joseph) ABRAHAM (geb. 28.03.1877 in Treysa).

Bei den Brüdern Abraham liegt insofern ein besonderes Schicksal vor, als der ältere, Josef Abraham, unter den Deportierten im September 1942 war und das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte. Emanuel, der jüngere, wurde Ende Mai 1942 deportiert, er starb im Konzentrationslager Sobibor im Juni 1942.

Familie: Emanuel und Josef (Joseph) Abraham waren Söhne des Kaufmanns und Großhändlers Scholem (Scholum) Abraham und seiner Frau Biene (Bienchen), die insgesamt neun Kinder hatten, von denen sechs das erste Lebensjahr überlebten. Von ihrem Bruder Salomon (geb. 23.02.1871), Teilnehmer des 1. Weltkriegs, heißt es: „Gefallen auf dem Feld der Ehre“. Er starb 1919 an seinen Kriegsverletzungen, begraben ist er auf dem jüdischen Friedhof in Treysa. Ihr Vater, Scholem Abraham, gehörte eine Zeit lang zum Vorstand der Jüdischen Gemeinde und seit den 1890er Jahren zu den ersten jüdischen Stadtverordneten der Stadt Treysa, ihre Mutter Bienchen zu den Mit-Gründerinnen des Israelitischen Frauenvereins, der sich besonders der Kranken- und Wöchnerinnenpflege angenommen hatte.

Werdegang: Nach dem Tod des Vaters Scholem Abraham und des Bruders Salomon 1919 wurden die Brüder Haus- und Geschäftseigentümer, wobei Josef Abraham als Haupteigentümer des Hauses Nr.274, heute Steingasse 43 und 45, und die Geschwister als Miteigentümer eingetragen wurden. Beide sind in der steuerlichen „Heberolle“ von 1921 aufgeführt.

1

Josef Abrahams Geschäft für „Anzugsstoffe, Kleiderstoffe, Wäsche etc.“ (wie es in einer Anzeige von 1932 heißt) lag am damaligen Rathausplatz (Marktplatz 8), Ecke Burggasse. Ihr Stamm- und Elternhaus befand sich aber in der unteren Steingasse. (links: Geschäftsanzeige von Josef Abraham, im Schwalmboten, 30.01.1932. s. B.Lindenthal)

 

 

 Emanuel, Josef und Recha Abraham waren eingetragene Mitglieder im Knüllgebirgsverein, ab 1922 war Josef im konservativen Treysaer Bürgerverein, der eng mit dem „Hausbesitzerverein“ der Hauseigentümer in der Kernstadt verbunden war. Der Bürgerverein versuchte Einfluss auf die städtische Politik der Stadtverordneten und des Magistrats zu nehmen. Sie stellten eigene Kandidaten, auch eigene Listen zu den Gemeindewahlen auf. 1932 und 1933 wurde Josef Abraham zum Rechnungsprüfer des Vereins gewählt.

 

2

Auf einem Gruppenfoto der
Wandergruppe des
Knüllgebirgsvereins von 1931 ist
Josef Abraham als 6.von rechts
zu sehen (s. B.Lindenthal)

 

 

 

 Nach 1933: Gegen die erste geplante reichsweite antisemitische Aktion des NS-Regimes am 1.April 1933, dem sog. „Boykott jüdischer Geschäfte“, der in Treysa bereits im März mit Anschuldigungen und Verdächtigungen gegen jüdische Eigentümer einherging, sie hätten die kommunistische Partei mit finanziellen und anderen Mitteln unterstützt, wehrten sich neben der Israelitischen Gemeinde und anderen Geschäftsleuten auch Josef und Emanuel Abraham durch Anzeigen und öffentlichen Bekanntmachungen, u.a. im „Schwalm-Boten“ (vom 8.03.1933). Sie hätten weder mit Geldmitteln geholfen noch Sammlungen zu politischen Zwecken durchgeführt. Gegen solche Gerüchte würden sie gerichtlich vorgehen. Beide gehörten nicht zu den wohl eher jüngeren 29 Menschen aus Treysa, die in einer ersten Welle der Auswanderung bis Ende 1934 auf die zunehmenden staatlichen Repressa- lien, einschließlich der Berufsverbote, reagierten. Auch in der zweiten Phase der antijüdischen Maßnahmen bis zum Pogrom 1938 konnten die Brüder sich nicht zur Auswanderung entschließen. Wieder verließen mehr als 40 Treysaer Juden ihre Heimatstadt bzw. ihren Wohnort. Die Angriffe in der Reichspogromnacht 1938 begannen in Treysa vereinzelt am 8.11., gezielt dann am Vormittag des 9.11., als der Ortsgruppenleiter Bachmann vom Rektor der Treysaer Stadtschule eine Gruppe von Schülern „beurlauben“ ließ, um gegen Gebäude und Menschen zu randalieren, deren Geschäfte unmittelbar um die zentrale Stadtkirche in der Innenstadt lagen. Zu ihnen stieß später der 21-jährige Hans Knauf als Anführer. Das dritte jüdische Geschäft, dessen Schaufenster sie einwarfen, in das sie eindrangen und aus dem sie Waren auf die Straße warfen, befand sich am Marktplatz und gehörte Josef Abraham. Der damals 14-jährige Lehrling der Stadtverwaltung, Karl Zulauf, sah dies gemeinsam mit dem Angestellten Ernst Hohmeyer (1948-1970 Bürgermeister von Treysa) von seinem Arbeitsplatz im 2. Stock des Rathauses aus und berichtete später davon: „…Wir hörten den Lärm der Schüler, die in das Geschäft von Josef Abraham eindrangen, Schaufenster einwarfen usw. […] wo ich einige 11- bis 13jährige Schüler erkannte und Bettfedern auf dem Marktplatz herumfliegen sah…“ (zitiert in: B. Lindenthal, Zwischen Hoffnung und Wahnsinn, S. 332) Das Urteil des Landgerichtes Marburg vom 8. Mai 1946 führte in den „Gründen“ zur Verurteilung wegen schwerem Landfriedensbruch an: „…zog der Angeklagte Knauf mit der Horde Schuljungen zum Marktplatz und drang mit ihr in das Geschäft des Juden Abraham ein, das restlos ausgeplündert wurde. Der Angeklagte Knauf und mit ihm in das Geschäft Abraham eingedrungenen Jungen warfen Ballen von Tuch und Läuferstoffen aus dem Geschäft auf den Marktplatz, wo sie von der dort versammelten Menge zertrampelt und dabei vernichtet wurden. Ferner rissen sie Säcke mit Daunen und Bettfedern auf und schüttelten den Inhalt auf den Marktplatz….“ (als Material M 6 wiedergegeben bei B. Lindenthal, Zwischen Hoffnung und Wahnsinn, ebd., S. 368). Dies wurde von einigen Umstehenden mit Missbilligung aufgenommen: So hat Karl Zulauf festgehalten, dass zwei Mütter ihren Söhnen befahlen, entwendete Ware wieder in das Geschäft von Josef Abraham zurückzubringen. Der erwähnte Zulauf fuhr nach seiner Mittagspause noch einmal am Nachmittag mit dem Rad in die Innenstadt, um von den Verwüstungen in der Fachwerk-Synagoge am Neuen Weg zu erfahren, die nur etwa 100 Meter unterhalb der Stadtkirche lag. Josef Abraham gehörte zu den Männern der Gemeinde, die nach dem Pogrom ins KZ Buchenwald überführt wurden.                                                                                                      
Flucht und Deportation: Die älteste Tochter ihres Bruders Salomon, Recha, hatte 1929 Karl (Julius Carl) Katz aus Witzenhausen geheiratet, wo das Ehepaar auch lebte. Am 7.10.1930 wurde die Tochter Susanne geboren. Allen drei gelang im Oktober 1939 die Auswanderung nach Palästina, Josef Abraham wurde amtlich als ihr „Vermögensverwalter“ bezeichnet. Emanuel und sein älterer Bruder Josef wurden Ende Mai 1942 bzw. am 1. September 1942 deportiert, Josef nach Theresienstadt. Er überlebte das Lager und ging 1945 in die Schweiz. Von dort stand er sporadisch in Kontakt u.a. mit dem Treysaer Bürgermeister Ernst Hohmeyer, dem er in einem Brief vom Juli 1956 die Umstände der Deportationen 1942 mit ihrer Vorgeschichte aus seiner Erinnerung heraus schilderte: „Da ich die Zeit während der Herrschaft des Nationalsozialismus bis zu meiner Deportation, in der ersten Hälfte des Monats September 1942, miterlebt habe und der einzige Überlebende der Treysaer deportierten Juden bin, kann ich Dir den gewünschten, eingehenden Bericht, soweit mir erinnerlich, geben…“ (zitiert nach dem Material M 7 B. bei B. Lindenthal, Zwischen Hoffnung und Wahnsinn, S.374)

Jettchen FREUDENTHAL (geb.Löwenstern, geb.20.4.1865 in Affoldern, wohnhaft in Treysa), Henriette Freudenthal war eine geborene Löwenstern und stammte aus Affoldern, „Jettchen“ war ihr Rufname.

gräber

Im Januar 1886 hatte sie Moses Freudenthal aus Mehlen (heute Edertal) geheiratet und war mit ihm im gleichen Jahr nach Kleinern gezogen. Dort kam ihre Tochter Karoline, genannt Lina, 1894 zur Welt. Karoline heiratete in Kleinern den Textil- kaufmann Theodor Schön, genannt Theo, aus Niederurff. Am 22.07.1928 wurde ihre Tochter Lina in Kleinern geboren. Theo Schön hatte hier ein Geschäft, das Anfang der 1930er Jahre von SA-Männern demoliert wurde. Theo Schön musste daraufhin das Geschäft aufgeben und die Familie zog kurz nach 1933 gemeinsam mit der Schwiegermutter Jettchen Freudenthal nach Treysa, wo ein Großteil der Familie Schön lebte. Sie zogen in der Steingasse 17. Vermutlich war Jettchens Mann Moses bereits gestorben, ohne dass ein genauer Todestag zu ermitteln ist. 1933 ist die gesamte Familie noch in Kleinern gemeldet.

Für Lina Schön, geb. Freudenthal, steht ein Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof in Treysa, gestorben 22.06.1939 (Foto links, Mitte). Sie verstarb im Hephata-Krankenhaus an einer Lungen- entzündung. Die Tochter Hannelore ging zuerst in Treysa zur Schule. Ihr Vater Theodor meldete sie im Jüdischen Waisenhaus in Frankfurt/Main, Röderbergweg, an, registriert am 6. Januar 1939. Von dort wurde sie am 08.01.1940 mit einem Kindertransport nach Holland verschickt. Sie kam in das Nederlands-Israelitisch Meisjesweeshuis, Amsterdam, Rapenburgerstraat. Hier wurde sie mit anderen im Februar 1943 inhaftiert, in das Lager Westerbork und dann in das KZ Sobibor gebracht, wo sie im März 1943 umkam. (Quelle: https://www.dokin.nl/ deceased_children/hannelore-schon-born-22-jul-1928/)

 

 

 

 

 

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Ein Foto von Hannelore, ähnlich einem Passfoto, ist links  abgebildet, es ist der Website www.dokin.nl entnommen, die von der Musikerin Miriam Keesing betrieben wird. Theodor Schön wurde 1941 im Arbeitserziehungslager Breitenau inhaftiert, 1942 in das KZ Sachsenhausen deportiert und dort umgebracht. Nachkommen der Familie Schön ließen einen Gedenkstein auf dem Jüdischen Friedhof in Treysa errichten, auf dem auch der Name von Jettchen Freudenthal steht (Foto links oben). Sie gehörte zu den im September 1942 Deportierten.

 

 

 

 

 

Jettchen HEILBRUNN (geb. 23.02.1879 in Abterode, zuletzt wohnhaft in Treysa, Wagnergasse), wurde in Abterode als Tochter des Buchbinders (und Schächters) Elieser (Leiser) Heilbrunn und seiner Frau Sprinz (geb. Goldschmidt) geboren. Sie lebte die längste Zeit ihres Lebens aber in Merzhausen und wird von der Gemeinde Merzhausen als „ermordet im Holocaust“ geführt.                           

Abraham HÖXTER (geb.25.05.1862, geboren in Neukirchen, zuletzt wohnhaft Treysa, Steingasse) und seine Ehefrau Gretchen HÖXTER (geb. Lichtenstein, 6.10.1883 in Meiningen)

Dieser Beitrag beruht vor allem auf der Doktorarbeit von Georg Möllers, „Jüdische Tierärzte im Deutschen Reich in der Zeit von 1918 bis 1945“, unter: Projektskizze (d-nb.info) im Internet abrufbar. Im Folgenden wird sie unter G. Möllers, mit Seitenangaben, zitiert. Weiterhin ist folgender Überblick über die Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Tierärzte zu empfehlen: DTBl_02_2019_juedische-Tieraerzte.pdf   Hier ist Georg Möllers mit Michael Schimanski Mitautor. Beide beziehen sich auf Vorarbeiten und Materialien von Bernd Lindenthal.   

Der Tierarzt Abraham Höxter war eine überregional bekannte und angesehene Persönlichkeit. Geboren am 25.5.1862 im nahe gelegenen Neukirchen. Dort eröffnete er nach seinem Studium wohl zunächst eine Tierarztpraxis, bevor er 1897 nach Treysa zog. Hier heiratete er 1906 die 21 Jahre jüngere Gretchen Lichtenstein aus Meiningen. Das Ehepaar hatte einen Sohn, Werner, geboren 1907. Werner Höxter studierte später Jura, verlor 1935 seine Stelle als Assessor und emigrierte nach Palästina. Seine Tochter Dr. Miriam Höxter hat 2014 75-jährig Treysa besucht, als sie von dem Projekt „Stolpersteine“ und von einer Stolpersteinverlegung für ihre Großeltern erfahren hatte.

Abraham Höxter machte sich in vielen Bereichen einen Namen: Er war ein allgemein anerkannter und beliebter Tierarzt, engagierte sich in Standesverbänden der Tierärzte, war in Treysa in Vereinen aktiv, so u.a. im Schützenverein, und arbeitete wissenschaftlich in der Forschung vor allem an der Entwicklung mehrerer tiermedizinischer Behandlungsmittel. Es war bekannt, dass er und seine Frau Medikamente selbst herstellten und in der Tierarztpraxis erfolgreich anwandten. Seine Arbeitsschwerpunkte lagen in der Behandlung und Entwicklung von Impfverfahren gegen die Maul- und Klauenseuche und bei ansteckender Blutarmut der Pferde. Er hatte intensive Kontakte zu Wissenschaftlern im In- und Ausland, so zu Emil von Behring in Marburg und zu französischen Regierungsstellen. Hier wurde Abraham Höxter vor allem im Rahmen der Bekämpfung der ansteckenden Blutarmut der Pferde konsultiert. Wegen dieser Kontakte entzog man ihm 1933 den Pass, offiziell um zu verhindern, „dass deutsches Geisteseigentum ins Ausland gelangt“. (G. Möllers, S. 165)

 

6Höxters Wirkungsgrad ging bereits vor dem 1. Weltkrieg über die Region der Schwalm hinaus und erstreckte sich auf ganz Hessen. Er war im Ort einer der ersten Bürger mit einem Pkw, schon ab 1912. Dabei lebte er in recht bescheidenen Verhältnissen und bezog mit seiner Familie nur eine Mietwohnung in der Bahnhofstraße in Treysa. (Links ein Foto mit Höxters Auto in der Bahnhofstraße in Treysa, 1933

 

 

 

 

 

Schon vor 1914 war er kommunalpolitisch engagiert. In der Weimarer Zeit wurde er Stadtverordneter für die Deutsche Demokratische Partei und übernahm zeitweise das Amt des Stadtverordnetenvorstehers. Später wurde Höxter auch Kreistagsabgeordneter. Nach dem Passentzug, der 1933 aus fadenscheinigen Gründen erfolgte, gab Höxter seine Praxis offiziell etwa um 1934 auf, seine Expertise und seine tiermedizinischen Behandlungen waren aber weiterhin gefragt. Das war wahrscheinlich vor allem nach dem Auftreten der Maul- und Klauenseuche 1938-1940 in der Schwalm der Fall. Abraham Höxter wurde von vielen um Hilfe gebeten. Ein Taxiunternehmer hat ihn offenbar in Nachbarortschaften gefahren. Da er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr über alle notwendigen medizinischen Geräte verfügte, bat er den Diakon Titus Fröhling, der Krankenpfleger und für die Verwaltung der medizinischen Gerätschaften im kirchlichen Hephata-Krankenhaus in Treysa verantwortlich war, ihm ein paar ausgediente Spritzen zu überlassen. Er kannte Fröhling von einem Krankenhausaufenthalt her. Dieser willigte offenbar etwas widerstrebend ein. Daraus machten Denunzianten aus der örtlichen NSDAP einen öffentlichen Skandal, der sowohl die Hephata Einrichtung als auch Höxter treffen sollte. Unter Führung des NSDAP-Ortsgruppenleiters Bachmann holte eine Parteigruppe Höxter aus seiner Wohnung und führte ihn nach Hephata. Dort holte man den Pfleger Fröhling aus der Anstalt und führte sie marktschreierisch zum Marktplatz. Hier wurden beide beschimpft und die aus- gedienten Spritzen als Instrumente bezeichnet, die im Anschluss wieder für die Behandlung von Menschen bestimmt gewesen wären. Fröhling und Hephata im Allgemeinen wurde vorgeworfen, mit dem Juden Höxter zusammenzuarbeiten, womit man offenbar erreichen wollte, dass der Hephata-Vorstand ausgetauscht und in NSDAP-Fahrwasser gebracht werden sollte. Fröhling wurde für zwei Wochen inhaftiert, Höxter kam nach einer Befragung wieder frei. Er und seine Frau betrieben, jedoch ohne Erfolg, die Auswanderung, auch wenn sie in ihrer Bekanntheit einen gewissen Schutz sahen. Höxter bekam auch in Fachkreisen immer deutlicher und direkter Diskriminierung zu spüren. Schließlich wurde Familie Höxter - mit anderen in Treysa- in zugewiesene Wohnungen, in sogenannte „Judenhäuser“, umgesiedelt. Dass für Juden die Versorgungslage immer prekärer wurde, veranlasste Höxter, auf Umwegen an Lebensmittel für sich und seine Frau zu kommen. Hier sind zahlreiche Hilfen aus der Bevölkerung dokumentiert, die zum Teil allen Bewohnern des „Judenhauses“ („Schön’sches Haus“) in der Treysaer Steingasse zugutekamen. Höxter war klar, dass die Entwicklung für ihn und seine Frau lebensbedrohlich war. Nach einigen Aussagen soll er Selbstmord erwogen haben. Es gibt Behauptungen, dass er bei der Deportation bereits auf der Strecke Treysa-Kassel tot gewesen sei. Da weder sein Sohn noch andere direkte Zeugen dies bestätigen, ist davon auszugehen, dass das Ehepaar gemeinsam im September 1942 mit den verbliebenen Treysaer Juden „in den Osten“ deportiert wurde.

Abraham KATZENSTEIN (jun./geb. 9.05.1884 in Treysa) wohnhaft in Treysa, Wagnergasse und seine Ehefrau Sophie KATZENSTEIN (geb. Rothschild, geb. 30.03.1900 in Netra), wurden Ende Mai 1942 deportiert. Das Ehepaar hatte einen Sohn, Wolfgang, der am 11.11.1921 in Treysa, geboren wurde und der im November 1936 nach Palästina fliehen konnte und in Haifa lebte.

Die Familie: Die Treysaer Familie Katzenstein war weitverzweigt. Ihre Familiengeschichte nahm in Treysa mit Levi Katzenstein um das Jahr 1800 ihren Anfang. Durch seine Ehefrau Sara Abraham war die Familie mit den jüdischen Familien Schwalm, Schwalmberg und Abraham verwandt bzw. verschwägert.

 

7Abraham Katzenstein (jun.) heiratete Sophie geb. Rothschild aus Netra im Dezember 1920. Er hatte das Baustoff- und Eisen- warengeschäft Wolf Katzenstein in der Wagnergasse zusammen mit seinem Bruder Julius nach dem Tod des Vaters 1916 übernommen. Leopold, der jüngere Bruder, war im 1. Weltkrieg, im Oktober 1916, in Frankreich gefallen. Auf seinem Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof Treysa steht „Unteroff. und Off. Aspierant“.

 

8 Links eine Aufnahme
des Geschäftshauses
von 1931. Unten ein
Foto von Sophie Katzenstein.

 

 

 

 

 

 

Der Vater, Wolf Katzenstein, hatte 1905 mit zu den Gründungsmitgliedern des „Bürgervereins“ gehört, der der „Pflege und Kräftigung des Bürgersinns, Förderung aller städtischen gemeinnützigen Bestrebungen…“ dienen sollte und als eine Interessengemeinschaft des Treysaer Mittelstandes mit besonderen Kontakten zum späteren Hausbesitzerverein zu verstehen ist. Wolfs Bruder Salomon führte ein Wohn- und Geschäftshaus an der Ecke Wagnergasse-Bahnhofstraße. Später wurde auch Julius Katzenstein Mitglied im Bürgerverein. Er war sechs Jahre jünger als Abraham, hatte studiert und war Diplom-Ingenieur. Im Februar 1928 kam es zu einer Auseinandersetzung im Bürgerverein, in deren Folge Julius seinen Austritt erklärte. Er hatte sich beim Kasseler Regierungspräsidenten über ein unsachgemäßes Vorgehen der Stadtverwaltung beim geplanten Umbau des Elektrizitätswerkes beschwert und moniert, dass man keinen Sachverständigen, auch nicht ihn selbst, zurate gezogen habe. Das sei nicht seine erste Kritik an der Arbeit der Stadtverwaltung. Dem Antrag auf Ausschluss aus dem Bürgerverein kam Julius Katzenstein mit seinem Rücktritt zuvor.  

Repressalien gegen die Familie Katzenstein nach 1933: Am 4.09.1933 führten SA-Mitglieder den Viehhändler Moses (gen. Moritz) Moses durch Treysa mit einem Schild in der Hand mit der Aufschrift „Ich wollte ein Christenmädchen schänden“. Begleitet wurde er von seiner Ehefrau Clothilde. Anschließend wurde er „in Schutzhaft“ gesetzt. Hierbei protestierte Abraham Katzenstein öffentlich und sein Auftreten wurde als „staatsfeindlich“ gewertet. Auch er wurde „in Schutzhaft“ genommen und nach Ziegenhain gebracht. In den örtlichen Zeitungen hieß es im NS-Jargon: „…allen solchen Elementen dürfte es klar geworden sein, daß auch die hiesige SA jedes staatsfeindliche Vorgehen im Keim erstickt und sofort gegen solche gemeingefährlichen Personen vorgehen wird.“ (B. Lindethal, Zwischen Hoffnung und Wahnsinn, S. 309) Eine Anklage wurde fallengelassen. Am 30.10.1933 wurde durch einen Brand das Wohn- und Geschäftshaus des Onkels, Salomon Katzenstein, in der unteren Bahnhofstraße zerstört und abgerissen. Dass dies durch Brandstiftung geschah, war vielen in Treysa klar, manche nannten hinter vorgehaltener Hand auch den Namen einer tatverdächtigen Person. Ein Brandstifter wurde offiziell aber nie überführt. Julius Katzenstein erhielt hierbei einen Schlag auf den Kopf, der ihn zusammenbrechen ließ, wie er 1957 in einem Entschädigungsantrag angab.

Julius Katzenstein verließ 1934 mit Ehefrau Gertrud und Tochter Ruth Treysa. Die Familie ging zunächst nach Hannover und wanderte dann nach Palästina aus. Auch der geschädigte Onkel, Salomon Katzenstein, verließ mit seiner Frau Bertha nach dem Brand 1934 Treysa, er war zu diesem Zeitpunkt 79. Jahre. Das Ehepaar zog nach Merseburg, zur Tochter Johanna, die noch in Treysa im August 1929 den Kaufmann Siegmund Daniel geheiratet hatte und mit ihm nach Merseburg gezogen war, wo das Ehepaar am 5.10.1930 eine Tochter, Anneliese, bekam. Die Adresse beider Familien wird wenig später in Leipzig angegeben. Während Bertha 1940 dort verstarb, wurden ihre nächsten Angehörigen von Leipzig aus deportiert: Ihre Tochter Johanna, der Schwiegersohn Siegmund und das Enkelkind Anneliese. Ihr Ehemann Salomon, 87 Jahre alt, wurde am 20.9.1942 von Leipzig nach Theresienstadt deportiert, wo er am 6. Oktober verstarb.

Abraham Katzenstein selbst wurde am Treysaer Pogromtag 1938 zur Mittagszeit des 9. November das Opfer der herumziehenden Meute, nachdem sie die Synagoge überfallen, Bücher und Kultgeräte sowie die Torarolle herausgezerrt und zum Teil zerstört hatte. Abrahams Geschäft lag etwas unterhalb der Synagoge, wohin sich einige Randalierer im Anschluss begaben, Fenster einschlugen und Warenbestände auf die Straße warfen. Abraham Katzenstein gehörte mit anderen zu den Männern der Gemeinde, die im Anschluss für etwa drei Wochen im KZ Buchenwald eingesperrt wurden. Ende Mai 1942 wurden er und seine Frau Sophie deportiert und aller Wahrscheinlichkeit nach im KZ Sobibor ermordet. [Gedenkbucheintrag, bundesarchiv.de].

Settchen LEVI (geb. Katz, geb. 23.01.1862 in Jesberg), wohnhaft in Treysa, Steingasse

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 Lisette Selma Levi, genannt Settchen oder auch Jettchen, stammte ur- sprünglich aus Jesberg. Sie heiratete Abraham Levi aus Neustadt. Das Paar wohnte in Treysa, Abraham Levi betrieb mit seinem Bruder Levi Levi einen Viehhandel in der Stein- gasse. Das Paar hatte vier Töchter, drei überlebten das Kleinkindalter. Die jüngste war die im Juni 1901 geborene Betty (Genrich), die mit ihrer Tochter Lore-Liselotte über Amsterdam nach Südamerika emigrierte und zuletzt in Argentinien lebte. Auch eine zweite Tochter, Lena, verheiratete Roßmann, konnte in die USA emigrieren.

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 Foto: Betty Genrich, geb.
Levi. An sie richtete sich
ein Brief von Josef Abraham
vom 1.10.1945, der u.a.
über das Schicksal ihrer
Mutter und der Familie des
Onkels Levi Levi berichtet.

 

 

Johanna MATHIAS (geb. Rosenbusch am 26.03.1895 in Borken), zuletzt wohnhaft Treysa und Simon MATHIAS (geb. 4.08.1895 in Deisel), wohnhaft Treysa, Steingasse 17.

11Das Ehepaar Simon und Johanna Mathias (Foto links) wohnte in Treysa zunächst in der Braugasse. Johanna war als ganz junge Frau nach Treysa gekommen, wo sie beim Kaufmann Levi Katz und seiner Ehefrau Jettchen, geborene Höxter, lernte und von ihm an Kindes statt angenommen wurde. Die Kinder der Familie Katz waren im Kleinkindalter verstorben. Levi Katz war der ursprüngliche Eigentümer des Hauses in der Braugasse, das er an das Ehepaar Mathias überschrieb. Er verstarb 1936, seine Ehefrau Jettchen bereits zehn Jahre zuvor. Simon Mathias war Eisenwarenhändler, der Werkzeuge, Badezimmer- und Badeöfen sowie Kohle verkaufte, einen kleinen Laden in der Braugasse hatte und oft mit einem Motorrad Kunden in der Umgebung aufsuchte. Er hatte als dekorierter Soldat in der deutschen Armee im 1. Weltkrieg gekämpft und bei einer Verwundung ein Auge verloren. Von Nachbarn und Bekannten wurde er oft um Rat und Hilfe gefragt und galt als ein nationalbewusster deutscher Jude. Das Ehepaar bekam am 15.10.1929 eine Tochter, Doris Henriette.

 

12Doris wurde an Ostern 1936 eingeschult. (Links: Ihr ältester Sohn, Shimon Guttentag, der mit Brüdern, Kinder und Enkel im Juni 2019 Treysa besuchte, hält Doris‘ Einschulungsfoto). Um die Mittagszeit des 9. November 1938 drangen aufgehetzte Schulkinder und Jugendliche mit einer Stange in Simon Mathias‘ Laden. Auch die Aufforderung von Johanna Mathias, davon abzulassen, ihr Mann habe im Krieg ein Auge verloren, hinderte sie nicht daran, in den Laden einzudringen. Auch Simon Mathias‘ Abwehr blieb erfolglos. Augenzeugen wollen gesehen haben, dass Simon Mathias an diesem Tag sein eisernes Kreuz aus dem 1. Weltkrieg am Revers getragen habe.
An diesem Tag endete für Doris der Schulunterricht frühzeitig, der Lehrer sagte ihr, dass sie nach Hause gehen solle. Es war ihr letzter Schultag in Treysa. In einem Interview mit Yad Vashem schilderte sie 2008 in englischer Sprache ihre Kindheit und Jugendzeit sowie ihr späteres Leben. Hier sagte sie, dass ihr Vater „ein guter Deutscher“ war, der auch die Warnung seiner bereits emigrierten Schwester in den Wind schlug. Simon Mathias wurde am 11.11.1938 mit anderen jüdischen Männern aus Treysa verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht.

Wenig später, am 21.11.1938, starb sein Vater, Sally Mathias, im Haus in der Braugasse, der mit seiner Frau Julie aus dem nordhessischen Deisel seit Ende 1937 im Haus von Sohn und Schwiegertochter lebte. Da kein männliches Gemeindemitglied vor Ort war, versuchte Johanna Mathias aus eigener Initiative ein Begräbnis für ihren Schwiegervater zu organisieren, was ihr in Treysa untersagt wurde. Mit großer Anstrengung gelang ihr eine Überführung nach Kassel. Erst 2019, bei ihrem Besuch, konnten die Nachfahren das Grab von Sally Mathias auf dem Jüdischen Friedhof in Kassel-Bettenhausen ausfindig machen.

 

13Nach dem Novemberpogrom 1938 setzte vor allem Johanna Mathias alles daran, ihre Tochter Doris aus Nazi-Deutschland herauszubekommen. Von den Kindertransporten hatte sie gehört, zuerst dachte sie, dass Holland das rettende Ziel sein könnte, weil dort ein Cousin lebte. Letztlich gelang es ihr aber, die Tochter nach London, in den Haushalt des Anwaltes Dr. Kugelmann, zu vermitteln, in dem ihre Schwester Fanni Rosenbusch tätig war. Im Mai brachte Simon Mathias ihre Tochter Doris, 9 Jahre alt, nach Hannover an den Bahnhof, wo sie mit einem Kindertransport nach London kam. In dem erwähnten Interview mit Yad Vashem sagte Doris,dass ihre Mutter sie kurz vor ihrem Aufbruch nach England nach Kassel mitgenommen habe, um Kleidungsstücke einzukaufen, und dass sie sich erinnere, dann mehrere Kleidungsstücke übereinander getragen zu haben. In England erwartete sie ihre Tante Fanni.
Doris versuchte sich in das Schulleben zu integrieren, was ihr, nach eigener Aussage, nicht leichtfiel. Letztlich gelang es ihr, eine Ausbildung als Sekretärin abzuschließen. In England heiratete sie mit 19 Jahren Max Guttentag, das Ehepaar bekam vier Kinder. Beide gingen als junge Eltern wenig später nach Israel, kehrten nach einigen Jahren nach England zurück, wobei Doris Guttentag, geborene Mathias, nach dem Tod ihres Mannes wieder in Israel lebte. Drei ihrer Söhne, Enkel und Urenkel besuchten 2019 Treysa, einen Ort, an dem sie noch nie gewesen waren, und wohin ihre Großmutter Doris, die sie liebevoll „Havta“ nennen, nicht mehr zurückwollte.

Ihre Eltern, Simon und Johanna Mathias blieben in Treysa zurück. Ab und zu konnte sie mit ihnen die 25-Worte-Karten des Roten Kreuzes austauschen. Simon Mathias‘ Mutter, also Doris‘ Großmutter Julie, erhielt in Treysa ein Visum, das ihre Tochter, Simons Schwester, aus den USA schickte. Mit fast 80 Jahren emigrierte sie 1939 in die USA, während ihr Sohn Simon und seine Frau blieben. Das Ehepaar Mathias hatte in Treysa neben dem späteren Verlust der eigenen Wohnung in der Braugasse und den erzwungenen Umzügen in „Judenhäuser“ die Zwangsarbeit von Ehemann Simon, u.a. im Tiefbau, zu ertragen. Simon Mathias wurde 1940 für kurze Zeit inhaftiert und für kurze Zeit im Konzentrationslager Breitenau bei Kassel festgehalten, wegen „fortgesetzter freundschaftlicher Kontakte zu Nichtjuden“. Noch 1942 übernahm er für die alte Frau Johanna Sonn aus Neukirchen eine Art „Vormundschaft“ im „Schön’schen Haus“, eines der „Judenhäuser“, in das viele Treysaer Juden kurz vor ihrer Deportation im September 1942 umziehen mussten. Auch Frau Sonn war gezwungen worden, im 82. Lebensjahr ihre Wohnung in Neukirchen aufzugeben und hierherzuziehen.

Jeanette NATHAN (geb. Schön, geb. 9.07.1876 in Treysa), wohnhaft in Treysa, war verheiratet mit dem Kaufmann Hermann Nathan, der 1872 in Bornheim, Kreis Bonn, geboren wurde. Er kam etwa 1930/31 nach Treysa und verstarb hier am 28.01.1935, wie sich seinem Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof in Treysa entnehmen lässt. Das Ehepaar hatte eine gemeinsame Tochter, Ruth (geboren 1916 in Hannover), verheiratete Karmon, die später in Israel lebte. Jeanette Nathan gehörte zu den Treysaern, die im September 1942 deportiert wurden. Ihr Name ist auf dem Gedenkstein der Familie Schön auf dem Jüdischen Friedhof in Treysa verzeichnet.

Clot(h)ilde MOSES (geb. Höxter, geb. am 14.12.1880 in Gemünden/Wohra), wohnhaft Am Angel 183, war die Ehefrau von Moses (Moritz) Moses. Clothilde Moses hatte ihren Mann Moses (Moritz) am 4.09.1933 bei dem schmachvollen, von der SA erzwungenen „Gang durch die Treysaer Innenstadt“ begleitet. Ihr Mann musste ein Schild mit der Aufschrift „Ich wollte ein Christenmädchen schänden“ tragen. Ob ihre Begleitung dabei freiwillig aus Solidarität oder gezwungenermaßen geschah, lässt sich nicht ermitteln. Moses Moses, ihr Ehemann, wurde am 26. März 1935 abends Opfer einer Bluttat in Ziegenhain vor dem Laden des jüdischen Metzgers Kaufmann, den zwei Betrunkene verursachten, die Moses niederschlugen. Moses Moses verstarb im Hephata Krankenhaus in Treysa an seinen Verletzungen. Im Juni 1935 wurde dieses Verbrechen vor dem Marburger Schwurgericht verhandelt und der Täter verurteilt. Das einzige Kind des Ehepaares Moses, Ernst, konnte im Alter von 16 Jahren nach Palästina fliehen.  

Auguste ROTH (geb. Rosenblatt, geb. 6.02.1883 in Zimmersrode), wohnhaft in Treysa, Wagnergasse. Sie wurde in Zimmersrode geboren, wo sie am 13.6.1911 den Metzger Samuel ROTH heiratete. Das Ehepaar ging bald nach Breitenbach am Herzberg. Dort wurden ihre beiden Kinder, der Junge Friedel (am 15.12.1913) und die Tochter Gretel (am 12.11.1919) geboren. Samuel ROTH starb am 15.7.1935 in Breitenbach, das Grab mit dem Grabstein ist dort auf dem Jüdischen Friedhof zu sehen. Der Sohn Friedel emigrierte über Luxemburg im November 1940 nach Frankreich, wo er nach Argeles sur Mer deportiert wurde und am 11.6.1941 umkam. Die Tochter Gretel zog wohl als junge Frau nach Berlin, Berlin-Pankow und Berlin-Mitte werden als ihre Adressen genannt (https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/). Am 1.März 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert. Ihre Mutter Auguste ROTH war Mitte der 1930er Jahre nach Treysa gezogen und wurde Haushälterin bei Settchen Levi, der Witwe von Abraham Levi. Sie wird namentlich erwähnt in: Chris Webb, The Sobibor Death Camp, S.241.

Minna ROTHSCHILD (geb. Linz, 14.10.1872 in Rotenburg/Fulda), wohnhaft in Treysa, Wagnergasse 266 war die Mutter der oben genannten Sophie Katzenstein und die Schwiegermutter von Abraham Katzenstein. Im Juli 1897 heiratete sie den Kaufmann Aron Rothschild aus Netra.  

14Minna Rothschild wohnte zunächst im Heimatort ihres Mannes, Aron Rothschild, der Textilwarenhändler in Netra im Werra-Meißner-Kreis war. Ihr Mann starb dort im November 1934.

Neben Sophie hatten sie zwei Söhne, Julius und Ludwig. Das Jahr 1934 war für Minna Rothschild sicher ein Jahr voller Schrecken. Julius hatte eine Geschäftsniederlassung in Berka/ Werra in Thüringen. Dorthin ging er regelmäßig im Jahr, um Abrechnungen und Rechnungsprüfungen vorzunehmen. Er übernachtete in einem Hotel im Ort. Im März 1934 wurde er dort von SA-Männern so schwer misshandelt, dass er starb. Der zweite Sohn der Familie, Ludwig (geb. 1916) hat später ausgesagt, dass sein Vater diesen Aufregungen nicht stand- gehalten habe. Sie seien Ursache seines Todes im November 1934 gewesen.

 

 

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Minna Rothschild ist irgendwann zwischen 1934 und 1937 ihrer Tochter Sophie, verheiratete Katzenstein, nach Treysa gefolgt. Der erwähnte zweite Sohn der Familie, Ludwig, half ähnlich wie sein ermordeter Bruder zunächst im Geschäft der Eltern mit. Ab 1937 bemühte er sich, da er schon seit seiner Kindheit privaten Musikunterricht erhielt, als Klavierstudent an der Musikhochschule Köln aufgenommen zu werden. Er wurde aber wegen seiner jüdischen Herkunft abgelehnt. Während einer Ferienreise nach Stuttgart im April 1937 verhaftete ihn die Gestapo und verschleppte ihn in das Gestapo-Gefängnis Darmstadt. Dort hielt man ihn ohne offizielle Anklage für längere Zeit fest. Erst im Oktober 1937 wurde Ludwig Rothschild, vermittelt durch einen bei der Luftwaffe tätigen Schulfreund und nach Zahlung einer größeren Geldsumme durch die Familie freigelassen. 1938 erhielt er privaten Klavierunterricht bei Amelie Heinemann, einer in Kassel ansässigen Klavierlehrerin. Im Oktober 1938 emigrierte Ludwig Rothschild nach Palästina, wo er in Tel-Aviv ein Klavierstudium aufnahm, das er immer wieder unterbrechen musste, um seinen Lebensunterhalt als frei-

schaffender Pianist zu verdienen. 1950 kehrte Ludwig nach Deutschland zurück (Wiesbaden), um ein Klavierstudium bei Walter Gieseking abzuschließen. Er arbeitete als Klavierlehrer u.a. in Frankfurt/M.

 

 

Auguste SCHWALM (geb. 23.11.1892 in Treysa), wohnhaft in Treysa, Am Angel und                                                                                                                        Milling SCHWALM (geb. 2.03.1898 in Treysa), wohnhaft in Treysa, Am Angel waren Geschwister.

Beide wohnten eine Zeitlang gemeinsam mit ihrer Cousine Jenny (Jenni) Schwalm (geboren 1888) „Am Angel 18“ in Treysa. Das kann bis etwa 1930 gewesen sein, da in dieser Jahr Jenny mit ihrem Bruder Maximilian nach Kassel zog. In Kassel wurde Jenny Schwalm aufgegriffen und in das Konzentrationslager Riga deportiert. Dort kam Jenny einige Jahre später um.

Auguste und Milling Schwalm, ihr jüngerer Bruder, waren Kinder von Salomon und Leah Helene Schwalm, geborene Ehrlich. Auguste wurde 1892 geboren, im Jahre 1898 Milling Schwalm. Er besuchte von 1909 bis 1915 die Höhere Knaben- und Mädchenschule (heute Schwalmgymnasium) in Treysa. Im Eheregister ist eingetragen, dass Milling in Treysa im Oktober 1934 Ilse (Irma) Goldschmidt aus Kassel heiratete. Als Beruf wird bei ihm „Kaufmann“ genannt. Ilse Schwalm konnte am 29.09.1938 in die USA auswandern. Dort heiratete sie im Dezember 1946 Justin Kuhl, das Paar hatte zwei Kinder. Sie ist 1962 in New York verstorben. Warum sie von ihrem Ehemann nicht begleitet wurde, geht aus den Akten nicht hervor.

Milling gehörte mit seiner Schwester zu den Ende Mai Deportierten, er wurde im August 1942 im Konzentrationslager Majdanek umgebracht. Beide sind auf der Deportationsliste der Stadt Marburg eingetragen, offenbar waren sie kurz zuvor dorthin verzogen oder hatten dort einen längeren Aufenthalt. Zum Zeitpunkt der Deportation am 31. Mai 1942 hielten sie sich wieder in Treysa auf.   

                           

Das Ehepaar WILLI und ROSEL SPIER: Rosel (eigentl. Rosa) SPIER (geb. Seelig, geb. 17.12.1893 in Reichensachsen) und Willy (Willi laut Heiratsurkunde) SPIER (geb. 25.07.1891 in Merzhausen), beide wohnhaft in Treysa, Wagnergasse 252.

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Das Ehepaar Willi (Willy) und Rosel Spier lebte zunächst in Treysa im Walkmühlenweg. Willi Spier war Viehhändler, der auch landwirtschaftliche Maschinen kaufte und verkaufte. Dazu suchte er mit dem Motorrad seine Kundschaft in den Schwälmer Ortschaften auf. Willis Familie stammte aus Merzhausen, wo seine Eltern Juda und Jeanette Spier bis 1939 lebten. In diesem Jahr zogen sie zu Sohn und Schwiegertochter nach Treysa, jetzt gemeinsam in die Wagnergasse. Jeanette Spier, Willis Mutter, geb. 1856 als Scheinchen Rothschild, konnte bis dahin in ihrem Haus in Merzhausen noch den Haushalt führen, war aber fast erblindet.

Rosel Spier stammte aus Reichensachsen bei Eschwege. Hier betrieb ihr Vater eine weithin bekannte Matzenbäckerei. (Links das Ehepaar Willi und Rosel Spier).

 

 

 
Im Walkmühlenweg wurde im Januar 1928 ihr einziges Kind, Hans Joachim, geboren. Das Ehepaar schickte den Sohn wegen einiger antijüdischer Vorfälle schon vor der Pogromnacht im November 1938 nach Frankfurt, wo er das Philanthropin besuchen und im Waisenhaus der Flersheim-Sichel-Stiftung mit fast 40 weiteren jüdischen Schülern leben konnte, die auch aus den ländlichen Regionen Hessens kamen. Ein Onkel von Hans Joachim war zu dieser Zeit im Philanthropin Leiter des Elementarschulbereichs. Und ein entfernter, bereits vor 1900 nach England ausgewanderter Verwandter war Mäzen beim Bau des Waisenhauses. Im Frühjahr 1939 konnte das Ehepaar ihren Sohn Hans Joachim mit den anderen Kindern der Stiftung und ihrem Leiter Hugo Steinhardt (zusammen mit Ehefrau Lilly und den beiden Töchtern Lore und Helga) auf einen Kindertransport nach England schicken, der zunächst am 15. März ab Frankfurt mit dem Zug, später mit dem Passagierschiff „SS Prague“ ab Hoek van Holland erfolgen sollte. Hans Joachim Spier erinnerte sich später, dass er vor der holländischen Grenze Angst bekam, weil er nicht genau wusste, was seine Mutter in den (amtlich limitierten) Koffer gepackt hatte und die in den Zug zugestiegenen Gestapobeamten ihm das Öffnen des Koffers befahlen. Erleichtert war er, als das ohne Folgen blieb.

In England hatte der Abgeordnete des britischen Unterhauses, James Armand de Rothschild, sein Landhaus in Waddington der Gruppe zur Verfügung gestellt. Die Gruppe aus Frankfurt wurde allgemein als die „Cedar boys“ bekannt, nach den Zedern vor dem Landhaus. Hans Joachim beging mit anderen seine Bar Mizwa-Feier dort. Er brachte die Elementarschule des Ortes zu Ende und kam wenig später zu einer englischen Familie im Ort Waddington, die einen etwa gleichaltrigen Sohn hatte. Er wollte selbstständig sein und begann rasch mit einer Bäcker- und Konditorlehre, die er erfolgreich abschloss. Dann heiratete er und eröffnete eine Konditorei mit Filialen. Einige seiner Rezepte lehnten sich an das an, was man in seinem Geburtsort als Festgebäck kannte. Seine Eltern hat er nie wiedergesehen. Drei Töchter von Hans Joachim Spier, der sich in England später „Jack Spier“ nannte, besuchten 2019 mit drei ihrer erwachsenen Kinder Treysa. Sie hielten eine bewegende Rede zur Stolpersteinverlegung in der Wagnergasse für ihre Großeltern Willi und Rosel sowie ihre Urgroßeltern Juda und Jeanette Spier.

Willi und Rosel Spier verloren in Treysa nicht nur ihr Hab und Gut, sie wurden zwangsweise mit anderen jüdischen Familien in oft wechselnde Wohnungen verwiesen. Willi Spier musste Fabrik- und Straßenbauarbeiten annehmen, seine Einnahmen gingen auf ein „Sicherungskonto“, zu dem er nur begrenzt Zugang hatte. Das Ehepaar Spier gehörte zu den Treysaer Juden, die am 31. Mai 1942 über Kassel „in den Osten“ deportiert wurden.

Jeanette SPIER (geb. Scheinchen Rothschild, Merzhausen, geb. 12.12.1856) war die Mutter von Willi Spier. Bis Ende 1939 oder Anfang 1940 lebte sie mit ihrem Ehemann Juda Spier (geb. am 14.12.1860 in Merzhausen) in Merzhausen, dem Ort, von dem die weitverzweigten Familien Spier ihren Ausgang nahmen. Juda Spier war Kaufmann, hatte Grundbesitz, Äcker, Wiesen und hielt im Ort Vieh. Dann zogen sie zu ihrem Sohn und der Schwiegertochter Rosel nach Treysa. Jeanette war stark sehbehindert und erblindete in dieser Zeit. Es war ihr schwergefallen, die täglichen Hausarbeiten in Merzhausen zu erledigen. In Josef Abrahams Rückblick 1956 stellt er über die im September 1942 Deportierten fest: „… die erblindete Frau Spier und ich…“ (B. Lindenthal, Zwischen Hoffnung und Wahnsinn, Material M 7 B., S.375). Am 11.01.1941 war Juda Spier in Treysa in der Wohnung seines Sohnes verstorben, seine Schwiegertochter machte im Einwohnermeldeamt die Todesanzeige. Er ist als einer der letzten Verstorbenen auf dem Jüdischen Friedhof Treysa begraben, ohne einen Grabstein zu bekommen. Seine Frau, die 85jährige Jeanette Spier, gehörte mit zu den letzten Deportierten im September 1942.

Auguste STERN (geb. Blumenfeld, geb. 13.06.1873 in Momberg) und ihr Ehemann Menko STERN (geb. 30.3.1872 in Niederurff) wohnten in Treysa in der Wagnergasse. Das Ehepaar lebte gemeinsam mit Menkos Bruder Jakob STERN (geb. 25.12. 1876 in Niederurff) und seiner Frau Nanni (Nanny) STERN (geb. 3.01.1878 in Momberg) sowie mit den jeweiligen Kindern in Treysa. Beide Brüder Stern hatten im Ersten Weltkrieg gedient. Menko und Jakob waren Metzger und hatten ihren Laden direkt im Haus in der unteren Wagnergasse. Menkos Sohn Julius und Jakobs Sohn Fritz (Manfred) besuchten die Höhere Knaben- und Mädchenschule, heute das Schwalmgymnasium in Treysa. Fritz (Manfred) Stern konnte 1937 nach Palästina fliehen. Gemeinsam mit ihrem jüngsten Sohn Arthur STERN (geb. 12.11.1914 in Treysa) wurden Nanni und Jakob Ende Mai 1942 deportiert, Arthur in das Lager Majdanek, Nanni und Jakob in das KZ Sobibor. Auguste und Menko Stern gehörten zu den im September aus Treysa Deportierten. Sie kamen für vier Wochen nach Theresienstadt, zwei Tage in das Lager Izbica und danach in das Vernichtungslager Treblinka.

Ida WEINBERG (geb. 11.02.1884 in Treysa) wohnte in Treysa, Am Angel 188. Sie war die Tochter von Rosette und Moses Weinberg, einem der Söhne von Israel Weinberg, der 1896 im 46. Lebensjahr verstarb. Sie hatte noch drei Geschwister: Julius, der einen Flachsbetrieb in der Wagnergasse aufbaute und etwa 1934 Deutschland verließ, Lina, die schon 1926 starb, und ihre Schwester Sophie („Sophia“ laut Standesbeamten, „Sara Sophie“ laut Eintrag der Geburten in der jüdischen Gemeinde Treysa) WEINBERG (geb. 15.04. 1882), wohnhaft ebenfalls Am Angel 188 in Treysa. Die Schwestern Ida und Sophie Weinberg wurden am 31. Mai 1942 von Treysa aus deportiert.

Die Deportierten aus den Schwälmer Ortschaften Neukirchen, Merzhausen, Oberaula und Willingshausen in alphabetischer Reihenfolge:

Die Seite „statistik-des holocaust“ nennt für die Deportation von Kassel am 1. Juni 1942 auf alphabe- tisch angelegten Listen für die Orte Neukirchen acht, Oberaula 13, Merzhausen zwei und Willingshausen eine Person.

Die folgenden Kurzbiografien lehnen sich an die Ausführungen von Barbara Greve an, zum einen in ihrem Buch „Eine kleine Stadt in Hessen - Neukirchen, die Juden und der Nationalsozialismus“, Kassel 2010 , wo sie ab der Seite 127 differenziert die Entwicklung der jüdischen Gemeinde und das Schick- sal der verbliebenen jüdischen Menschen seit 1938 schildert, zum zweiten an ihre Ausführungen im Band III „Heimatvertriebene Nachbarn“, Verlag Stadtgeschichtlicher Arbeitskreis, Schwalmstadt-Treysa, 2008, S. 307 f., die die Geschichte der Familien der Neukirchener Juden nach 1933 nach einzelnen Familiennamen darlegt. Weitere Quellen sind: H. Herget, H. Heynmöller, R. Knoch, Was uns an die letzten jüdischen Bürger Oberaulas erinnert, in: Heimatvertriebene Nachbarn, Bd. II, S. 657 f, , hg. v. H. Bambey, A. Biskamp, B. Lindenthal, Bd.I, Schwalmstadt-Treysa 1993.

Gerda, genannt Grete BACHRACH, (geb. 2.10.1922, gemäß „Gedenkbuch des Bundes“), lebte in Neukirchen. Sie war das einzige Kind von Meta und Julius Bachrach. Sie ging zunächst in die Jüdische Volksschule bis zur Auflösung 1933, anschließend bis zum Ende der Schulpflicht in die Stadtschule. Danach half sie im elterlichen Geschäft. Die immer restriktiveren Lebensbedingungen verlangten von ihr 1941, dass der Bürgermeister eine „Unbedenklichkeitsbescheinung“ ausstellte, damit sich die kurzsichtige Grete in Kassel eine neue Brille machen lassen konnte.

Ihre Mutter Meta BACHRACH (geb. Minna Meta Speier/Spier, geb. am 31.03.1895 in Hoof), war wohnhaft in Neukirchen. Sie war die Ehefrau von Julius Bachrach. Ihre Ehe war am 2. September 1921 in Hoof bei Kassel geschlossen worden. Ihr Ehemann Julius hatte das Geschäft und Wohnhaus seines Vaters Elias übernommen, woher der Hausname „Eliasse“ kam. Das stattliche Haus lag im Ortskern von Neukirchen am Marktplatz nahe der Kirche. Er betrieb einen Handel mit Lebensmitteln, Schuhwaren, Kohlen und Branntwein. Weitläufig war er mit der Familie Nagel in Neukirchen verwandt. Gerhard Nagel, der mit einem Kindertransport nach Palästina gerettet wurde, hat in seinen Erinnerungen neben den Schilderungen zu den eigenen Eltern auch eine Begebenheit der Familie Bachrach erwähnt, die die Pogromnacht 1938 betraf. Er erinnerte sich, dass Julius Bachrach am 9. November „oben auf dem Dach gestanden“ habe, als Nazi-Gruppen gegen sein Haus in Neukirchen gewütet hätten, und heruntergerufen habe, dass jeder, der eindringe, von ihm Holzstücke auf den Kopf bekäme. (Gedalyah Nigal, Erinnerungen an den Novemberpogrom in Frankfurt a.M. und Neukirchen“, in: Heimatvertrieben Nachbarn, Bd. II, Jahreszahl, S. 467 f.) Er warf tatsächlich Brennhölzer und verletzte einem Nazi die Hände, als der die Haustür aufbrechen wollte. Damit ließen die Männer aber nicht ab und drangen in den Laden ein. Julius Bachrach nahm eine Axt und drohte, dass er die erschlagen würde, die hochkämen, um seine Woh- nung zu plündern. Seine Frau Meta flehte ihn an zu fliehen, weil er nicht gegen so viele kämpfen könne. Er hörte auf sie, entkam über die Dächer und versteckte sich im Wald. Julius Bachrach floh nach Darmstadt, wo seine Schwester Ella und ihr christlicher Mann, der Möbelfabrikant Wilhelm Müller, lebten. Deshalb war er der einzige jüdische Mann in der Gemeinde, der nicht nach Buchenwald kam. Julius Bachrach starb an einem Herzschlag 1940 im Alter von nur 45 Jahren. Als letzter Jude wurde er auf dem Jüdischen Friedhof in Neukirchen beigesetzt. Seine Frau Meta und die Tochter Grete lebten danach in sehr bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Ein Gastwirt aus Neukirchen gab nach 1945 vor Gericht an, die Familie Bachrach „längere Zeit unterstützt“ zu haben.  

Meta HEILBRUNN (geb. 15.10.1883 in Oberaula) lebte in Oberaula. In einem Artikel der HNA (Hessisch Niedersächsische Allgemeine) vom 29.05.2012, heißt es: „In Oberaula lebten bis zum 30. Mai 1942 noch zwölf Nachbarn jüdischen Glaubens: Die Familie des David Wallach mit den Kindern Bettina und Edith, die Witwe Meta Heilbrunn sowie die zwei Familien Isaak.“ Diese Angabe muss insofern korrigiert werden, als Meta Heilbrunn unverheiratet gewesen war. Sie wurde am 15.10.1883 in Oberaula als Tochter von Koppel (Rufname für: Jakob) Heilbrunn I und seiner Ehefrau Emma (Esther), geborene Katz aus Frielingen, geboren. Meta hatte einen Bruder, Salomon, 1887 geboren, der in Düsseldorf lebte. Von ihm heißt es, dass er und seine Frau Berta Heilbrunn, geborene Cahn (geb. am 24. 11. 1887 in Essen) ab 1915 erfolgreich einen Bettenfederversand betrieben. Mit ihren Kindern Marga (geb. 1915) und Günter (geb. 1919) lebten sie in in Düsseldorf. Während der Novemberpogrome 1938 wurden Teile des Geschäfts und Lagers von Salomon und Berta Heilbrunn zerstört. Marga emigrierte bereits 1936 nach England und heiratete 1938 dort. Günter Heilbrunn emigrierte Anfang 1939 nach Palästina. Das Geschäft in Düsseldorf musste aufgegeben werden. Am 21. Juli 1942 wurde das Ehepaar nach Theresienstadt deportiert und am 15. Mai 1944 in Auschwitz ermordet.

Betty ISAAK (geb. am 20.07.1907 in Oberaula, eingetragen im Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Hausen, einem Nachbarort). Sie war die Tochter und das älteste Kind von Max (Marcus) Isaak und seiner Ehefrau Goldine, genannt Lina, die aus Hausen stammte und eine gebürtige Liebermann war. Betty Isaak war nicht verheiratet und hatte die in Berlin geborene Tochter Rahel Hertha ISAAK (geb. am 8.01. 1935 in Berlin). Beide lebten zum Zeitpunkt der Deportationen 1942 in Oberaula.

Bettys jüngster Bruder war: Jakob ISAAK (geb. am 9.08. 1921 in Oberaula).

Ihre Eltern: Lina Goldine ISAAK (geb. Liebermann, geb. am 11.12.1880 in Hausen) und ihr Ehemann Max Marcus ISAAK (geb. am 5.04.1879 in Oberkleen), waren wohnhaft in Oberaula im „Haus Nr. 10“, wie der Ortsplan mit „jüdischem Besitz“ ausweist, heute Niederrheinische Straße 14. In diesem Haus befand sich bis zur Auflösung 1933 mit separatem Eingang auch die Judenschule, also die Israelitische Elementarschule. Das Ehepaar hatte vier Kinder, Betty (s. oben) war die älteste. Nach ihr kamen die Söhne Ferdinand, Moritz und Jakob zur Welt, Jakob war der jüngste, ein „Nachzügler“. Während Ferdinand wie sein Vater Geschäftsmann wurde, war Moritz ein Hersfelder Klosterschüler und wird als „sehr intelligent“ bezeichnet, ein Schüler, der „stolz sein Schulkäppchen“ trug (Quelle: H. Herget u.a., s.o., S. 657 f.). Er war der erste jüdische Mann in Oberaula mit eigenem Auto.

 

17Moritz ISAAK geb. am 17.11.1884, in Oberkleen, wie sein Bruder Max. Ehemann von Selma ISAAK, geb. Wallach, geb. am 10.05.1888 in Oberaula, beide wohnhaft in Oberaula. Ihre Tochter Elfriede ISAAK, geb. 2.01. 1929 ebenfalls in Oberaula, hatte noch zwei Brüder, Theodor (Theo, siehe Foto links) geboren 1914 und Martin Jakob, geboren 1920. Theodor war von 1926 bis 1929 Klosterschüler in Hersfeld. Beruflich war er zunächst in Reichensachsen bei Eschwege tätig. Nach der NS-Machtübernahme entschloss er sich zur Auswanderung ins damalige Palästina. Eine Möglichkeit zur Umschulung nutzte Theodor durch Besuch von Gut Winkel in Brandenburg, eines der Hachscharah-Lager. Nach der erzwungenen Aufgabe von Gut Winkel 1941 wechselte die Leitung unter M. Gerson in das nahe Gut Neuendorf - mit Theo Isaak, der wohl als Assistent des jüdischen Lagerleiters Martin Gerson tätig war. Ein Grund dafür, dass er seine Auswanderung selber nicht betrieb.

 

 

 


Klara NAGEL, geb. Schuster, (geb. am 4.12. 1896 in Mainz) und Sally Werner NAGEL, (geb. am 17.11.1891 in Neukirchen) beide wohnhaft in Neukirchen. Sally Nagel arbeitete lange Zeit als Kommissionär der in Kassel ansässigen Firma Barth, einer Firma für Leinen- und Manufakturwaren. Er war mit dem Motorrad unterwegs, um mit Warenproben für die Firma zu werben und Aufträge zu akquirieren. Die Familie hatte ein kleines Warenlager bei sich in der Neukirchener Wohnung.

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Oben: Das Ehepaar Sally Werner und Klara Nagel, Neukirchen

Im 1. Weltkrieg war Sally Nagel schwer verwundet worden. Noch 1934 erhielt er als ehemaliger Frontkämpfer das von Reichspräsident Hindenburg verliehene Ehrenkreuz. Sally Nagel interessierte sich für die Ideen des Zionismus und setzte sich öffentlich dafür ein, auch in der Jugendbildung. Die Familie Nagel zog 1938 aus den ständigen Anfeindungen gegen ihren Sohn Gerhard in der Schule, die sowohl von Mitschülern als auch von einzelnen Lehrern ausging, die Konsequenz, ihn nach Frankfurt zu schicken. Dort konnte er in einer jüdischen Schule, der Raphael-Samson-Hirsch-Schule, lernen und dann auch im Jüdischen Waisenhaus am Röderbergweg unter Leitung des Ehepaares Marx leben. Mit anderen Kindern und Jugendlichen aus dem Waisenhaus konnte Gerhard im März 1940 mit einem Kindertransport, den das Ehepaar Marx leitete und begleitete, aus Nazi-Deutschland nach Palästina entkommen. Hier wurde er später als Gedalya Nigal Professor für Hebräische Literatur.

Am 9.11.1938 wollte eine NS-Gruppe auch die Wohnung des Ehepaares Nagel in Neukirchen stürmen, doch stellte sich dem ein Nachbar aus dem Haus erfolgreich entgegen. Mit anderen jüdischen Männern des Ortes versteckte sich Sally Nagel daraufhin bis zum nächsten Morgen im Wald. Bei ihrer Rückkehr wurden alle Männer vom Wachtmeister festgenommen und in die Feuerwehrbaracke neben der Synagoge eingesperrt. In Gedalya Nigals Erinnerung an die Schilderungen der Familie hat der Vater in der Baracke die übrigen Inhaftierten angeleitet, hebräische und zionistische Lieder anzustimmen, um etwas gegen die Angst auszurichten. Am folgenden Tag wurden alle jüdischen Männer nach Kassel und von da am 12.11. 1938 in das KZ Buchenwald nahe Weimar gebracht. Frau Nagel besuchte ihre 11-jährigen Sohn in Frankfurt, in dem auch Drohungen gegen Juden und ein Überfall mit Zerstörungen gegen die Synagoge an der Friedberger Anlage geschehen waren. Frau Nagel und ihre Eltern hatten früher noch in dieser Synagoge gebetet. Sie fuhr mit ihrem Sohn zu Verwandten nach Würzburg, um dann mit ihm gemeinsam nach Neukirchen zurückzukehren. Deswegen erlebte Gerhard nach vier Wochen die Rückkehr seines Vaters aus Buchenwald, wohl weil er Frontsoldat gewesen und schwer verwundet worden war. Für den 11-jährigen Gerhard war dies ein einschneidendes Erlebnis: Sein Vater war blass und abgemagert und die Haare waren ihm geschoren worden. Er nahm seinen Sohn beiseite und erzählte ihm von der Haft, über etwas, das man normalerweise seinem 11-jährigen Kind nichts erzählt. Für Gerhard war es klar, dass sein Vater jetzt alles daransetzen würde, ihn und auch sich selbst und seine Frau aus Nazi-Deutschland herauszubekommen, das kein „Vaterland“ mehr für ihn war. Der Weg nach Palästina, den er als Vertreter zionistischer Ideen gehen wollte, war ihm weitgehend versperrt. Vor allem junge Auswanderer erhielten noch Zertifikate, die bereit waren, ihren Beitrag auch im wirtschaftlichen Sinn für den Aufbau Palästinas zu geben. Dazu war er auch körperlich nicht mehr in der Lage. So fing Sally Werner Nage an Spanisch zu lernen, um einen Ausweg nach Lateinamerika zu suchen. Er machte so rasch Fortschritte beim Lernen, dass auch andere Neukirchener Juden von ihm unterrichtet werden wollten. Aber zum Teil durch Desinformation, zum Teil aus Schikane gelang es dem Ehepaar Nagel nicht, nach Südamerika oder in die USA zu entkommen, zumal ihr Vermögen beschlagnahmt worden war und ihre kleinen Ersparnisse zu gering waren. Während es für sie selber fehlschlug, sollte es bei Gerhard gelingen. Weil im Frankfurter Waisenhaus auf der Kindertransport-Liste ein Platz frei geworden war, wurde Gerhards Name eingetragen. Im Rückblick hat er berichtet, dass seine Eltern nach Frankfurt kamen, um ihm Kleider und Wäsche zu bringen, die sie auf einer Liste genannt bekommen hatten. Im April 1939 begleitete Sally Nagel seinen Sohn in Frankfurt zum Bahnhof, von dort fuhr die Kindergruppe in Begleitung von Marx nach München, wo sie in der Halle festgehalten wurde, angeblich weil sie Hitler beleidigt hätte. Nachdem diese Aufregung ausgestanden war, brachte sie ein Zug nach Italien, genauer nach Venedig, wieder begleitet von Marx. Im Rückblick stellte Gerhard Nagel fest, wie die Angst ihm auch noch in den ersten Wochen in Palästina im Nacken saß, dass „irgendetwas passiert“, das ihre Freiheit gefährdet. Vom Vater hatte er den Auftrag, „der Welt zu sagen“, wie schlimm Deutschland geworden sei. Für Sally Nagel ging einen Teil des Familienwunsches in Erfüllung, sein Sohn blieb in Palästina. Das Ehepaar Nagel aus Neukirchen wurde am 31.Mai 1942 deportiert.

Franziska PLAUT, geb. Buchheim, geb. am 3.01.1882 in Gilsa bei Fritzlar, war die Ehefrau des Raphael PLAUT, geb. am 16.02.1876, gestorben 1940. Das Paar lebte in Willingshausen. Die Witwe Franziska Plaut wurde am 31. Mai 1942 deportiert.

Das Ehepaar Berta (Bertha) SONN, geb. Katzmann, geb. am 5.03.1885 in Flieden, und Moritz SONN I, geb. am 13.12.1879, lebten in Neukirchen. Es war die zweite Ehe von Moritz Sonn, aus der ersten Ehe mit Rosa Ronsheimer, die schon 1922 im Alter von 37 Jahren verstarb, hatte er die Tochter Bertha, geboren 1908. Diese Tochter konnte in die USA auswandern und lebte zuletzt als Bertha Bleiweiss in Chicago, von wo sie in den 1950er Jahren Anfragen an den Bürgermeister von Neukirchen richtete, die sich auf einen Entschädigungsantrag bezogen. Nach Eheschließung mit Moritz Sonn I ist Berta Katzmann wohl etwa 1923 nach Neukirchen gezogen. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn, Siegbert, der 1925 geboren wurde. Ihr Haus- name war „Husars“, weil Moritz Sonn mit Rindern, vor allem aber mit Pferden handelte und auch das Militär belieferte. Später übernahm er die Funktion des Gemeindevorstehers der Kultusgemeinde Neukirchen. Im Herbst 1937 wurde ihm das Betreiben des Gewerbes untersagt. Nach der Pogromnacht 1938 war er einer der im KZ Buchenwald inhaftierten Männer der Gemeinde. Auch wenn Moritz Sonn die Auswanderung für sich, seine Frau und den Sohn plante und betrieb, scheiterte er damit, vielleicht wegen seines fortgeschrittenen Alters.

Siegbert SONN aus Neukirchen, geb. am 1.10.1925 in Marburg, war der Sohn von Berta und Moritz Sonn I, wie oben geschildert. Er war das Kind aus der zweiten Ehe von Moritz Sonn. Der Witwer hatte Berta Sonn geb. Katzmann aus Flieden geheiratet. Von Siegbert ist der schulische Werdegang stichwortartig bekannt: Von 1932 bis 1933 besuchte er die Israelitische Volksschule, dann die „Stadtschule“, die seine „Entlassung“ am 9. November 1938 festhielt. Kurz nach dem Pogromtag war jüdischen Kindern der Besuch „deutscher Schulen“ nicht mehr gestattet, Siegbert war 13 Jahre alt. Für den Mai 1942 ist auf einer Steuerkarte vermerkt, dass Siegbert in Neukirchen zwangsweise Erdarbeiten leisten musste, er erhielt einen „Juden-Regellohn“ von 0,23 RM die Stunde. Bei den Angaben zum Vermögen, die er für die „Umsiedlung nach dem Osten“ machen musste, gab er in großen Lettern 1.402 Mark und 02 Pfennige an. Mit seinen Eltern wurde Siegbert am 31. Mai aus Neukirchen und am 1. Juni 1942 aus Kassel deportiert. Der Deportationszug hielt in Lublin, wo eine „Selektion“ stattfand und Siegbert Sonn mit 98 anderen Männern zur Zwangsarbeit in das „Kriegsgefangenenlager Majdanek“ abkommandiert wurde. Seine Eltern wurden weitertransportiert, vermutlich direkt in das Vernichtungslager Sobibor. Der Zwangsarbeit in Majdanek und den katastrophalen hygienischen und anderen Lebensbedingungen hielt Siegbert nicht lange stand. Er starb am 19. September 1942, kurz vor seinem 17. Geburtstag.

Johanna SONN, (geb. Nußbaum, aus Neukirchen, geb. am 2.11.1860 in Niederklein), war die zweite Ehefrau von Levi Sonn I. Eigentlich gehört sie nicht zu den deportierten Juden aus Treysa, sie stammt aus Neukirchen wie ein Großteil ihrer Verwandtschaft. Erst 1942 siedelte sie gezwungenermaßen nach Treysa um, in das sogenannte Judenhaus, das „Schön’sche Haus“. Johanna hatte nach dem Tod ihres Mannes 1896 neben den eigenen Kindern auch die ihres Mannes aus erster Ehe aufgezogen. Im Haus in Neukirchen lebte sie im Obergeschoss mit ihrer kranken Tochter Mathilde (auch Marianne genannt), die 1890 geboren wurde und bereits 1941 nach ärztlichen Angaben an TBC verstarb. Seit Herbst 1940 war der Jüdische Friedhof in Neukirchen auf NS-Anweisung geschlossen und im Altkreis Ziegenhain der Friedhof in Niedergrenzebach für Beerdigungen bestimmt worden. Wenn eine Überführung von Mathilde Sonn tatsächlich stattgefunden hat, dann wohl auf den jüdischen Friedhof Niedergrenzebach. Ein Grabstein für sie lässt sich dort nicht finden.

Der Sohn Sally war schon früh nach Berlin gezogen, von wo er später nach Südamerika fliehen konnte und in Chile lebte. Der Sohn Levi war im Krieg gefallen und der Sohn Moritz, genannt „Molly“, durch einen Lungendurchschuss schwer verwundet aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt. In Neukirchen hatte er Bertha (Berta), geb. Nagel, geheiratet. Auch „Molly“ verstarb früh, 1927, an den Folgen der Kriegsverletzung und hinterließ als Witwe eben Bertha Sonn. Gemeinsam mit ihrem Sohn Ludwig, der aus ihrer kurzen Ehe mit dem schwer verletzten Moritz hervorgegangen war und der 1920 geboren wurde, wohnte die im Erdgeschoss desselben Hauses wie ihre Schwiegermutter Johanna Sonn. Am 9. November 1938 drang eine Nazi-Horde, wohl aus einem Nachbardorf kommend, in ihr Haus ein und zerstörte bei den Familien Sonn Möbel und Geschirr. Das gab Ludwig „Levi“ Sonn in den 1950er Jahren eidesstattlich zu Protokoll, auch frühere Nachbarinnen bestätigten dies. Johanna Sonn wurde im 82. Lebensjahr Ende Mai nicht mit ihrer Schwiegertochter deportiert, sondern kurz zuvor genötigt, nach Treysa in das „Schön’sche Haus“ umzuziehen, dem sie nachkam. Gegen diese Umsiedlung protestierte sie dann unter Verweis auf ihr Heimweh mit der schriftlichen Bitte, wieder in ihr Neukirchener Haus zurückkehren zu dürfen. Das gelang ihr tatsächlich für sehr kurze Zeit, bis der Bürgermeister aus Neukirchen sie erneut aufforderte, jetzt endgültig nach Treysa umzuziehen. Dort übernahm dann Simon Mathias eine Art „Betreuung“ oder „Vormundschaft“ für sie. Ihre Schwiegertochter Berta wurde am 31. Mai 1942 deportiert.

Berta SONN, geb. Nagel, geb. am 7.07.1888 in Neukirchen, war eine ältere Schwester des schon genannten Sally Nagel. Sie hatte 1919 den schwer kriegsgeschädigten Moritz Sonn II geheiratet, der an den Folgen der Kriegsverletzung 1927 im Alter von nur 34 Jahren starb. Berta Sonn lebte im selben Haus wie ihre schon betagte Schwiegermutter Johanna (s. dort). Beide, Moritz und Berta, hatten einen Sohn, Ludwig, geboren 1920. Ludwig Sonn war 1938 der jüngste, der nach der Pogromnacht inhaftiert und ins KZ Buchenwald gebracht wurde. In der Pogromnacht spätabends war das gemeinsame Haus von einer Nazi-Bande angegriffen und Mobiliar und Geschirr zerstört worden, wie noch in den 1950er Jahren gerichtlich festgehalten wurde. Ludwig war mit einigen anderen jüdischen Männern in den Wald geflohen, wurde aber wie die anderen bei der Rückkehr ins Dorf am Folgetag festgenommen.

 

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Ludwig emigrierte nach seiner Entlassung aus Buchenwald nach Holland, überlebte mit Hilfe einer Untergrundorganisation, zuletzt versteckt, und ging nach Kriegsende nach Palästina, wo er sich in Erinnerung an seinen Onkel, Levi Sonn nannte. Hier heiratete er Ruth Moses aus Frankfurt/M.

(Foto unten: Ludwig Sonn im Exil in Holland)

Wie beschrieben bewohnte Berta Sonn in der Hintergasse eine Wohnung im Erdgeschoss, ihre Schwiegermutter, Johanna Sonn, geborene Nussbaum, (geb. 1860) wohnte mit der kranken Tochter Mathilde (geb. 1890) in der dritten Etage.

 

 

Salomon SPIER (geb. 28.09.1864 in Merzhausen), wohnhaft in Merzhausen ging mit Gütchen (Gitta) Levi (geb. 1868) aus Ottrau im Jahre 1889 die Ehe ein. Das Paar hatte sieben Kinder, von denen die Tochter Betti, die Söhne Hermann, der Lehrer in Hildesheim und Leer wurde und dessen beide Töchter Henriette und Berna am 5.01.1939 mit Kindertransport nach England kamen, und Samuel mit ihren Ehepartnern in der Shoah umkamen. Gitta Levi Spier verstarb 1933 in Merzhausen und wurde dort auf dem jüdischen Friedhof beerdigt. Salomon Spier wurde im September 1942 deportiert, überlebte das Lager Theresienstadt und ging nach Merzhausen zurück, wo er den Folgen der Haft im November 1947 erlag.

Das Ehepaar Emma SPIER, geb. Oppenheimer, geb. am 22.11.1904, in Altenlotheim, und Samuel SPIER, geb. am 25.10.1901, in Merzhausen, der Sohn des Salomon Spier und der Gütchen (Gitta) Levi (geb.1868) aus Ottrau (siehe oben), lebte in Merzhausen. Sie waren Eltern von Werner Spier (geb. 1930) und Gitta Spier (geb. 1935).

Das Ehepaar David WALLACH, geb. am 22.11.1886, und Rika (Ricka) WALLACH, geb. Wallach, geb. am 28.07. 1898, Oberaula. David Wallach wird als „korrekter Viehhändler“ beschrieben, die Familie führte zur Selbstversorgung nebenbei eine kleine Landwirtschaft. Ihr gehörte das „Haus Nr. 11“ (Bahnhofstraße) in Oberaula nach dem Ortsplan mit Angaben zum „jüdischem Besitz“. Ihr Hausname war: Nathans Vit. Rika Wallach war nach der Pogromnacht mit den beiden Kindern nach Frankfurt geflohen, vermutlich zu Emma Löwenstein, der Schwester von David Wallach. Emma Löwenstein lebte mit ihrem Mann Nathan und der Tochter Emma seit kurzem dort.

Das Ehepaar David und Rika Wallach hatte zwei Töchter: Bettina WALLACH, geb. 28.12.1925, und Edith WALLACH, geb. 27.07. 1931, beide in Oberaula. Nach dem Weggang mit der Mutter kurz nach der Pogromnacht lebten die Schwestern in Frankfurt und in Oberaula. Offenbar gibt es im Ort die Erinnerung, dass Rika Wallach mit den Kindern einen Handwagen mit ein paar Habseligkeiten zum Bahnhof in Oberaula zog, und dass Kinder und Jugendliche aus dem Ort sie solange aufhielten, dass sie einen Zug später fahren mussten (s. H. Herget u.a., Was uns an die letzten jüdischen Bürger Oberaulas erinnert, s.o., S. 657 f). In Frankfurt konnten die Kinder zur Schule gehen, was ihnen seit dem 15. November 1938 in Oberaula verwehrt blieb. Hier konnten sie mit Emma Löwenstein zusammen sein, die nur ein Jahr älter als Bettina war und auch aus Oberaula stammte. Sie war das Kind von Emma und Nathan Löwenstein, die im März 1939 nach Frankfurt gezogen waren. Von Bettina Wallach ist ein kurzer Brief erhalten geblieben, den sie im Sommer 1940 an ihre Freundin und Schulkameradin Senta Wallach richtete, die 1939 mit ihren Eltern in die USA ausgewandert war. Barbara Greve hat diesem Brief und damit Bettina Wallach ein berührendes Kapitel unter der Überschrift „Ein Foto-ein Brief“ im Band II der „Heimatvertriebenen Nachbarn“ gewidmet. Bettina schickt Senta die herzlichsten Grüße, sagt, dass sie „zu Hause“ in Oberaula sei, bald aber wieder in Frankfurt lebe, dass es ihr hier langweilig sei und dass es schöner gewesen sei, als Senta noch im Ort gelebt habe. Ob sie schon Freundinnen gewonnen habe? Ob sie an sie denkt? Ob sie sich wiedersehen? Die Fragen und ihr Tonfall machen die Trauer deutlich, die Bettina in diesem Moment verspürte. Am 31. Mai 1942 wird Bettina Wallach gemeinsam mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester deportiert.

Text: Jürgen Junker

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